Rolf Bauerdick, Zigeuner – Begegnungen mit einem ungeliebten Volk
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013
Der Autor hat „weit mehr als einhundert Reisen zu Zigeunern in zwölf europäischen Ländern unternommen“ und dabei „viele humorvolle, gastfreundliche, schlitzohrige, rundum liebenswerte Menschen“ kennengelernt. Er erzählt herzzerreißende Geschichten aus dem Alltag der zerfallenden Ostblockländer in den 90er Jahren, in denen die Zigeuner durch alle Ritzen der zerborstenen gesellschaftlichen Strukturen fallen. Ein unvorstellbares Elend wird voller Anteilnahme und Verzweiflung zugleich geschildert. In den nachsozialistischen Gesellschaften wurden sie als Arbeitskräfte zuerst entlassen, mit ihren vielköpfigen Familien nicht mehr aufgefangen durch die ohnehin dürftigen Netze sozialer Sicherung. Verdrängt werde allerdings, so Bauerdick, dass die Zigeuner weniger von den „Gadsche“ (den Nicht-Zigeunern), als „von den Angehörigen des eigenen Volkes ausgebeutet werden“ und unter „Kindesmissbrauch, Frauenhandel und Zuhälterei, unter Kreditwucher, Erpressung und Bandendiebstahl“ leiden. Die Schilderungen leidvoller Einzel-Schicksale verdichten sich zu einer kollektiven Tragödie.Bauerdick will nicht belehren, wohl aber kritisiert der Autor den „keimfreien Diskurs“ derjenigen Antiziganismusforscher, die „keinen einzigen Tag ihres Lebens mit den Zigeunern auf osteuropäischen Müllkippen teilen; die von Kongress zu Kongress reisen, doch albanische, bulgarische oder ukrainische Elendsviertel nicht einmal vom Hörensagen kennen“ aber trotzdem meinen, für „Sinti und Roma“ sprechen zu müssen und gewöhnlich mit der Belehrung aufwarten, „wie rassistisch und antiziganistisch die Dominanzgesellschaft ist“. Es gilt als ausgemacht, dass die Entstehung von Rassismus im Allgemeinen dort eine geringere Chance hat, wo man den/die Anderen aus der Nähe erfahren und kennen lernen kann. Die Stärke der Pegida-Bewegung im Osten der Republik wird angesichts des dort deutlich geringeren Ausländeranteils in der Bevölkerung gern zum Beleg für diese These genommen. Im Kontakt mit den ziganen Populationen scheint dieser Effekt nicht zu greifen. Im Gegenteil: Gerade in Ländern mit hohem Anteil jener Bevölkerungsgruppen finden sich nicht nur Ausgrenzung, gewalttätige Übergriffe und tiefe Verachtung, sondern auch selten die Bereitschaft zum Zusammenleben – auf beiden Seiten. Wir werden ausgegrenzt, sagen die einen, ihr seid nicht zu integrieren, die anderen.In Deutschland hingegen dominieren in der Öffentlichkeit Nachsicht mit den Nachkommen der Verfolgten und Ermordeten des Nationalsozialismus, Verständnis für die allerorten Geächteten,– zumindest solange sie keine unmittelbaren Nachbarn sind. Was dann geschieht, schildert Rolf Bauerdick ausführlicher an zwei bundesdeutschen Konflikt-Beispielen, einem jüngeren Datums (Dortmund) und einem weiter zurück liegenden (Darmstadt): Es entstehe „ein intellektuelles Klima, in dem sich politisch korrekte Meinungen hartnäckig gegen jedes Erfahrungswissen behaupten wollen“. Eine moralische Avantgarde missbrauche die Zigeuner als Objekt einer bloß imaginären Fürsorge, während die verschleißende Arbeit in den Armutsquartieren verzweifelnden Kindergärtnerinnen, Erzieherinnen und Lehrern überlassen werde. Kein offenes kritisches Wort über bulgarische Zigeuner (in diesem Fall weder Sinti, noch Roma), die hunderte junger Frauen in Dortmund auf den Straßenstrich schickten und skrupellose Verbrecher, die in andern europäischen Städten verwahrlosten und apathischen Kindern Bettelgeld abknöpften. Wo die „politisch Korrekten“ nur „rechtlose Opfer von Globalisierung und Ausgrenzung, heimatlos, auf der Suche nach Arbeit, Lohn und Brot“ sehen, will Bauerdick u. a. auch die in Osteuropa sitzenden „Patrone und Sippenchefs“ genannt wissen, „die sich in einem bizarren Wettbewerb um den Protz ihrer Paläste und Kitschburgen permanent übertrumpfen“.
Andererseits wirbt Bauerdick auch um Verständnis: „Wir leben in denselben Länden und denselben Städten und dennoch sehen „Gadsche“ und Roma dieselbe Welt mit anderen Augen an.“ Die tiefe Schicksalsgläubigkeit, den verbreiteten Aberglauben und ein magisches Denken führt ein vom Autor zitierter serbischer Roma-Menschenrechtler auch auf die Verwurzelung des geistigen Erbes im Denken Indiens zurück. Für den Autor selbst sind die unter Zigeunern häufig anzutreffende heitere Gelassenheit bzw. lethargischer Fatalismus eher die Folge einer Unterdrückung und Fremdbestimmung über Jahrhunderte, in denen nie gelernt wurde, das Geschick in die eigenen Hände zu legen. Bauerdick gibt keine fertigen Antworten, und verteilt keine vorschnellen Schuldzuweisungen, gibt dagegen Hinweise auf dasjenige, was fehlt bzw. nötig wäre: „Es hapert an positiven Lebensentwürfen, an Modellen für gelungene Mittelklasse-Biografien, die Kindern und Jugendlich eine alltagstaugliche Orientierung bieten. Es fehlen lokale Führer, deren Blick über den Rand des eigenen Familienclans hinausragt; an geduldigen Lehrern, die zum Lernen motivieren; an Geschäftsleuten und Handwerkern, die Ausbildungsplätze schaffen.“ Die Bildungsmisere der Roma sei kein ethnisches, sondern ein soziales Problem. Es fehle allerdings auch an Eigeninitiative bei den Zigeunern selbst, bzgl. des hohen Anteils an Schulverweigerern seien sie nicht Opfer, sondern eigenverantwortliche Täter. Die Eltern sähen eben in Bildung und Erziehung keinesfalls eine Chance, der Armut und der Abhängigkeit von der Sozialhilfe zu entgehen. Und nicht zuletzt sei das Insistieren auf der Opferperspektive seitens der offiziellen Verbände in Deutschland geeignet, den letzten Rest „ziganen Selbstbewußtseins“ zu tilgen; es verstelle zugleich den Blick auf Möglichkeiten, wenn man nur über Armut und Defizite definiert werde.
Das Buch lebt von spannend erzählten und glänzend geschriebenen Geschichten, ergänzt durch Bewertungen, die durch Erfahrung beglaubigt sind. Man liest es wie ein positives Gegenbeispiel zu der Mahnung von Albert Camus: „Indem man die Dinge falsch benennt, trägt man zum Übel in der Welt bei.“
Red.: Bernd Eckhardt