Integration – zwischen Abwehrzauber und Teilhabeanspruch

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Integration – zwischen Abwehrzauber und Teilhabeanspruch

Die Häufigkeit und Bestimmtheit, mit der dieses Schlagwort in der politischen Auseinandersetzung verwendet wird, steht in auffälligem Kontrast zu seiner Vieldeutigkeit. Auch das jüngst verabschiedete Integrationsgesetz löst diese nicht auf. Der eigentlich aus der Migrationssoziologie stammende Begriff ist auch dort umstritten, über ein anerkannt gültiges Maß gelungener Integration verfügt man nicht; ein vager Konsens besteht dahingehend, dass es sich dabei nicht um eine einseitige Erwartung an die Einwanderer, sondern um einen Prozess wechselseitiger Veränderung handele.

Der Gesetzgeber hat zwar Instrumente zur Integration von Ausländern bereitgestellt, definiert aber nicht, was unter Integration zu verstehen ist. Die Integrationskurse sollen – als Voraussetzung einer Integration – Sprache, Rechtsordnung, Kultur und Geschichte Deutschlands vermitteln. Die Niederlassungserlaubnis wiederum ist an die Beachtung der Rechtsordnung und die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts gekoppelt.
Integration hieße demnach: sich in der Gesellschaft orientieren können, nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten und finanziell auf eigenen Füßen stehen. Dass der Gesetzgeber nicht konkreter wird, ist verständlich; Integration soll schließlich nicht in den Staat erfolgen, sondern in die Gesellschaft. Aber was ist die Gesellschaft?

Integration oder Inklusion?

Die durch Niklas Luhmann inspirierten soziologischen Theorien sehen die Gesellschaft der Moderne durch einen Prozess der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet. Die moderne Gesellschaft ist aufgelöst in eine wachsende Vielheit von Teilsystemen, die sich gegenseitig zur Umwelt haben und die strukturell mehr oder weniger fest aneinander gekoppelt sind. Dies bedeutet auch: Die moderne Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass ihre innere horizontale Differenzierung ein Zentrum ausschließt, von dem her die Gesellschaft für alle verbindlich repräsentiert werden könnte. Für die Integration des Einzelnen bedeutet das: es besteht eine gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft. Es werden allerdings keine „ganzen“ Individuen in die gesellschaftlichen Teilsysteme inkludiert, sondern rollen- bzw. systemspezifische Teilaspekte: man ist Besitzer eines Arbeitsplatzes, Elternvertreter, Mitglied einer Partei oder eines Vereins, Ehepartner und Nachbar etc. Im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften ist nicht mehr die gesamte Existenz durch die Zugehörigkeit zu einem stabilen Verband (Schicht, Familie), geprägt. Wäre also besser von Inklusion zu sprechen, statt von Integration?

Sehnsucht nach Identität

Vertreter der soziologischen Zunft argumentieren, im Alltag einer solchen Gesellschaft sei man auf kulturelle Integration nicht mehr zwingend angewiesen, verschiedene Lebensformen könnten unter Anerkennung wechselseitiger Fremdheit und Distanz nebeneinander existieren. Was jedoch die einen als Freiraum schätzen und daraus die Freiheit ableiten, fremd und desintegriert zu sein, ist für gemeinschaftsorientierte Menschen bedrohlich: in unüberschaubaren Situationen immer wieder riskante Entscheidungen treffen zu müssen, fördert die Sehnsucht nach einer – religiös oder säkular begründeten – kollektiven Identität. Dass dieses Bedürfnis in der deutschen Bevölkerung derzeit wieder anwächst, zeigt eine aktuelle Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie. Demnach stimmten 76% der Befragten der Aussage zu, Ausländer, die in Deutschland lebten, sollten sich an der deutschen Kultur orientieren, könnten ihre Sprache, Bräuche und Religion zwar pflegen, im Konfliktfall solle die deutsche Kultur aber den Vorrang haben. Immerhin 49 % waren der Meinung, das Grundgesetz zu achten und die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu akzeptieren, reiche nicht aus; Deutsch zu sein habe auch mit Herkunft und Tradition zu tun.

Pflicht zur Integration?

Unbeeindruckt von soziologischer Expertise ist auch in der Politik-Arena die Forderung nach „vollständiger Integration“ virulent. Sie reagiert einerseits auf das Anliegen autochthoner Bevölkerungskreise, das (vermeintlich?) „Fremde“ unsichtbar machen zu wollen, wirkt zugleich für die unmittelbaren Adressaten als Abschreckung bzw. Drohung mit Selektion und Ausschluss, wenn etwa der Bundesinnenminister jüngst formulierte: „Wir können bei der Integration nicht alle Ausprägungen anderer Kulturen tolerieren“ und „Integration kann nur gelingen, wenn klar ist, auf wen sie sich bezieht“. „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten…“ – ja, wohin?

Über die Grenzen von Zuwanderung kann demokratisch entschieden werden und es wäre zulässig, Zuwanderung unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Homogenität zu steuern. Ist aber ein Zuwanderer im Land, gelten die Grundrechte auch für ihn, und damit auch die einer ausgedehnten Meinungs- und Bekenntnisfreiheit. Auch Religionen bzw. der Inhalt religiöser Bekenntnisse müssen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Die Verhaltens-anforderungen an die Gläubigen dürfen allerdings nicht mit den allgemeinen Gesetzen und den Rechten anderer kollidieren. Was bleibt also übrig von der Drohkulisse, was kann von wem verlangt werden? Eine Verpflichtung zur Integration besteht weder für Deutsche, noch für Ausländer; letztere sind lediglich zum Besuch des Integrationskurses in bestimmten Fällen verpflichtet.

Neutralitätsgebot und Wertevermittlung

Angesichts der Pluralität von Lebensstilen, Meinungen und Weltsichten in Deutschland ist es fraglich davon auszugehen, dass es so etwas wie einen verbindlichen oder fest umrissenen Wertekanon gibt, auf den man einen Zuwanderer festlegen könnte. Selbst wenn es ihn gäbe, wäre es verfassungsrechtlich fragwürdig, eine Übernahme der Werte der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu verlangen. Denn der Staat darf aufgrund des ethisch-religiösen Neutralitätsgebots in Weltanschauungsfragen keine Überzeugungsarbeit leisten. Er darf lediglich ein äußeres Verhalten verlangen, dass der Achtung von individueller Freiheit, Gleichheit, Pluralismus etc. entspricht. Eine dementsprechende innere Haltung oder gar ein Bekenntnis darf er nicht abfordern, sondern nur dafür werben. Dieser Aspekt wird im heuer verabschiedeten Integrationsgesetz hervorgehoben, indem eine verstärkte Wertevermittlung in den Integrationskursen angestrebt wird.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Individualismus, Desintegration und Querdenker deutlich höher im Kurs standen und gar als Voraussetzung von genialischem Schöpfertum gehandelt wurden. Offenbar sorgen eine „beschleunigte Gesellschaft“ (Hartmut Rosa) und viele Unübersichtlichkeiten im Gefolge der Globalisierung in dem am stärksten durchmischten Land Europas für erhebliche Verunsicherungen und ein verstärktes Bedürfnis nach Gemeinschaft. Aber weder ist die ethnische Homogenität ein schützenswerte Gut in der Verfassung, noch gibt es in der Rechtsprechung eine Festlegung auf die soziokulturelle Identität als Nation. Somit wären also auch die „Wir sind das Volk“-Rufer sowohl einem fundamentalen Irrtum erlegen, als auch –ohne Ironie – noch zu integrieren, nämlich im Hinblick auf das Verständnis für die Grundlagen unserer Verfassungsordnung.

Offene Integration und…

Der emeritierte Soziologe Hans Georg Soeffner meint, der Begriff Integration könne sich nicht mehr auf eine Mitte als Orientierungsgröße beziehen. Realistisch sei daher eine offene Integration; integriert in diesem Sinne sei, wer Differenzen – zwischen Individuen, Überzeugungen und Lebensstilen – erkennen, artikulieren und aushalten könne, Strukturen und Kooperationszusammenhänge verstehe und diese nutzen könne, sowie die Sprach- und Rollenspiele seiner sozialen Welt beherrsche. Demzufolge wären Orientierungsfähigkeit und die Befähigung zur Teilhabe bereits Kern und Ziel einer gelungenen Integration, die so gesehen wesentlich zur Bildungsfrage würde, Deutsche und Zuwanderer gleichermaßen beträfe.

…gesellschaftlicher Zusammenhalt

Der Begriff der Integration enthält laut Duden zwei Bedeutungsebenen: einmal kann damit ein Vorgang der Eingliederung bezeichnet werden, zum anderen geht es um die (Wieder-) Herstellung einer Einheit. Bzgl. der ersten Bedeutungsvariante geht es immer um die Frage, wohinein denn integriert werden soll; darauf lassen sich, abhängig von der jeweiligen Sicht auf die Gesellschaft vielerlei Antworten – wissenschaftliche, politische, weltanschauliche – finden. Für den Migrationsforscher Paul Scheffer setzt erfolgreiche Integration voraus, dass die westlichen Gesellschaften sich über die Normen und Regeln einig sind, die sie auf keinen Fall zur Disposition stellen wollen. Es reiche auch nicht aus, den Aspekt der Bereicherung durch Migration in den Mittelpunkt zu stellen, ohne den Verlust einer vertrauten Welt in Betracht zu ziehen. Der wirkliche Gewinn sei ohnehin der, dass Migration eine Gesellschaft zur Selbstbefragung zwinge. Daran anschließend wäre Integration hinsichtlich der zweiten Bedeutungsebene nicht als einmal erreichter Zustand zu begreifen, sondern als stetiger und komplexer Aushandlungsprozess, in dem eine Verständigung über das angestrebt wird, was den gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht und fördert. Fazit: Dauerhaft gültige und allgemein verbindliche Antworten gibt es in dieser Frage nicht.

Red.: Bernd Eckhardt
Foto © william87/fotolia.com

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Bernd Eckhardt

Bernd Eckhardt

Leiter Fachbereich Sprachen an der VHS Frankfurt bei VHS Frankfurt
Sprachexperte
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